Climacium Dendroides
2016, Moosfotografie auf Textil gecrasht verleimt, Erde, Holzleim, Keilrahmen
150 x 220 x 7 cm

                       



Brigitte Borchhardt-Birbaumer

Zu Theres Cassinis „work in progress“

MOOS

Moos als ruhender Pol in Zeiten „rasenden Stillstands“.
Verlangsamte Langsamkeit, verinnerlichte Verinnerlichung und ideale Projektionsfläche.


Die gedankliche Verbindung zwischen Cassinis neuer Werkserie „Moos“ und ihrer vorangegangenen Projektarbeit „Glühend Eis“ mit Fotografien und Kombinationen
von Objekten aus Plexiglas, Schiefergestein und metallenen Platten, ist nicht zu übersehen.
Da wie dort werden Gewächse durch Vergrößerung (Makrofotografie) in ihrer Erscheinung sichtbar gemacht. Inhaltlich setzen sich Umweltfragen wie die immanente Theorie um das Verhältnis Kunst und Natur fort. Auch zu den künstlerischen „Lichtspeisen“ (2006-2008) und den feministischen Arbeiten mit Barbiepuppen („Realität“ 1999 und „Balance Akte“ 2001) ergeben sich Bezüge.

Mit den Moosarbeiten ist die Recherche über die konzeptuellen Schritte Cassinis noch interessanter und komplexer geworden. So werden z.B. in kleinen Labor-situationen verschiedene Moosarten unter Glas am Leben erhalten. Diesen künstlichen Kleingärten als Mikrokultur und Naturerhalt steht auch ein destruktiver Faktor gegenüber.
Da wie dort wird mit Verfremdung gearbeitet; dort eine scheinbar unverrottbare Barbie, die von einer Straßenwalze überrollt wird, da eine Traktorspur, die den Zeit- und Materialfaktor verstärkt und den negativen Umgang des neuzeitlichen Menschen mit der Natur hervorhebt.


Moos bringt neben den künstlerischen Aspekten verschiedene wissenschaftliche Aspekte mit sich: den Umweltgedanken als Indikator für intakte Wasser- und Luftqualität, die frühere Verwendung als Verpackungs- und Dämmmaterial - sogar als Windeln, bis hin zu einer medizinischen Nutzung beim Blutstillen. Im Volks-aberglauben ist das in frühen Apotheken angebotene „Muscu scranii“ verankert: das Moos kam von Totenschädeln armer Sünder, angesetzt von Medizinern, galt als Wunden heilend und fand Nutzung als Waffensalbe; beliebt war auch die Moosentnahme von Kirchenmauern und Eschenrinde. Der „Brunnenmies“ galt als wirksam gegen Grind und Krätze und wurde von Flusssteinen abgelöst. Mit seinen über 16.000 verschiedenen Arten verfügt das global verbreitete Moos über botanische und biologische Auffälligkeiten. Mit seiner Einstufung als „niedrige Pflanze“, langsam wachsend und meisterlich in der Anpassung, lassen sich Parallelen zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Schwerpunktfragen herstellen. Denn Moos wächst in fast allen Gegenden der Welt.


Moos in der Literatur
Der poetische Impetus der Gegenwartsliteratur spielte als Anregung für Cassinis neue Werkfamilie eine nicht unbedeutende Rolle. „Moos“ titelt Klaus Modick seine Novelle aus dem Jahr 1996. Sie hat die beruhigende Rückverwandlung des Menschen nach seinem Tod in Natur zum Inhalt, bedient also eine Art positiven Vanitasgedanken: am Schluss überwuchert Moos auch den Körper eines Mannes, der sich in sein Elternhaus von der Welt zurückgezogen hat. Vom Boden und den Wänden greift sein Breitenwachstum ins Barthaar über. Zurück zur Langsamkeit, in Kindheitsgefilde und zu neuem Leben ist der beruhigende Faktor, Tod und Verwesung sind die gruselnden Gegensätze.
„Moos auf den Steinen“ (1956) von Gerhard Fritsch war eine weitere Inspirations-quelle, ebenso wie Elisabeth Gilberts „The Signature of All Things“ von 2014, eine fiktive Biografie über eine Moosforscherin des 19. Jahrhunderts, die ohne jede Esoterik in die männliche Wissenschaftslogik vorstoßen konnte.

Öffnet man Christoph Ransmayrs „Atlas eines ängstlichen Mannes“, sind neben anderen die Episoden „Luftangriff“ und „Spielfiguren“ mit Moosgedanken befasst. Hier kombinieren sich Kindheitserinnerung, Mythen und Märchen; das Mooshaus-bauen steht für ein Festhalten von Traditionen.
Eine Verbindung zum Scheitern spricht aus den Bezeichnungen im Volkslexikon: Teufelskorn, Wolfsgerste, Hasenweizen - ausgehend von der Beobachtung des Mooswachstums von einer blüten- und samenlosen Sporenkapsel am Stil, meist flach auf der Erde oder in Polsterform, in die Breite wuchernd. In den nordischen Sagen ist das Moos wie die Farne ein Synonym für Göttinnenhaar. Die Moosfräulein sind Wald- oder Erdgeister, auch die wilden Männer und Frauen (wie der keltische „Greenman“) haben von Moosen bedeckte Blößen. Christianisiert wird durch die lanzenförmige Spitze der Sporenkapsel aus dem Moos die Bezeichnung Jesuskraut.
In der Antike und im Mittelalter finden sich bei Plinius d.Ä., Tiberianus, Theophrastos und Paracelsus, sowie in der Bibel bei Jesaia, Kommentare zum Moos. Beschrieben als Gewächs an den Quellen und in Grotten, gehört es zur Erscheinungsform eines „Locus amoenus“, dem angenehm schattigen Ort. Es kleidet die Höhle am Eingang zur Unterwelt aus, auch in der mythischen Orpheusgrotte, vor der die Tiere ihre Namen bekamen, und in der nach Eurydike gesucht wurde, mit dem Aspekt des Schoßes für alles Leben und Wiedergeburt, darum Ort zum Ausruhen und Erquicken. Nachts sah Plinius aus dem feuchten Moos die Pilze als Scherze der Natur hervor schießen. Für die Waldbodenbilder in christlicher Elementenlehre passt das üppig wuchernde Gewächs als Zeichenträger ungebändigter chaotischer Natur.

Moos in der Kunst
Die Kunstkammer und die Grotte waren ehedem Orte für Moos im künstlerischen Garten-Kontext im Innen- und Außenraum einer idealen Villa der Antike und weiter ab der Renaissance. Der Künstler als Gärtner ergibt schon früh eine Parallele zur Schöpfernatur im göttlichen Sinn. Zum anderen ist das Genie im Umgang mit Moosen auch eine angenehm gebremste Erscheinung; die Natur schafft eine Vermenschlichung der Geistesriesen. Seit den 1970er Jahren ist der Vergleich von der „Arte povera“ rückwirkend in der Kunstgeschichte bis zur stellvertretenden Darstellung der Erde („Terra“) unter den vier Hauptelementen sichtbar. Die Hauptvertreter wollten auch die manieristisch-moderne Dialektik von hart und weich, künstlich und natürlich, organisch und anorganisch sichtbar machen – so verwendete Jannis Kounellis Kakteen in Erdrinnen zu Blei- oder Eisenplatten. Wie aktuell in der Gegenwartskunst die Bezüge zu einer zweiten Natur oder künstlich geschaffenen Mikrokultur sind, zeigt sich an vielen Vertreter_innen, die Moos in ihre malerische und fotografische Arbeit mit unterschiedlichen Inhaltsfragen einbeziehen.

Für Cassini sind es nicht nur die Gegensätze der „Arte povera“, das arme Material und die Laborsituation einer künstlich gezüchteten Natur. Sie lässt sich Moose aus allen Ländern dieser Erde bringen, fotografiert sie mit Makrolinse, und schafft durch die ganz unterschiedlichen Applikationen, Kombinationen und Verfremdungen neue Bezüge.
Sie „verortet“ das Moos durch die Angabe der Koordinaten ihrer Fundstelle („Mapping“), sie lässt einen wirklichen und „naturnahen“ Traktor über das vergrößerte und farblich verfremdete Moosbild fahren und stellt dieses Überrollen in der künstlichen Welt des Ateliers mit einem einzelnen Traktorreifen nach – mit „echtem“ Erdmaterial.
Erde als Schriftzeichen, Erde als Heimatkonnotation und als Kritik an der historischen Auslegung des Heimatbegriffs.
Für Cassini ist Moos einer von vielen Indikatoren einer intakten Umwelt und wichtig für Gedanken einer Tiefenökologie, die sich im anwachsenden Labor von Einmachgläsern und gebauchten, übereinandergestapelten Glasgefäßen mit halbkreisförmigen Laborglasdeckeln äußert.
Käfer und Kleinorganismen wie sie in den frühen Aquarellen eines Georg Hoefnagel oder den Schüttelkästen der Kunstkammern in Renaissance und Manierismus wichtig sind, wurden ehedem als fixierte Natur künstlich nachgemacht. In Rachel Ruyschs Stilllebenwelt des Barock gab es den „Thesuarus anatomicus“, der kleine Skelette, getrocknete Pflanzenrelikte und Steine zusammenführt, um ähnlich wie mit dem Ambraser Schüttelkasten (Kunsthistorisches Museum) Schaudern auszulösen, aber auch mit einer Art formaler Auflösung zu arbeiten, beides für die Gegenwartskunst aktuelle Aspekte.

Naturgeschichten als Kunstgeschichten
Auflösung kommt dem Gedanken des Dungseins für die Natur nahe und verbindet naturwissenschaftliche Aspekte mit der Symbolik des Religiösen. Für die Jesuiten war die optische Versenkung in Details der Natur auch im Zeichen der Wissenschaft gottgefällig. Denn die eine Erkenntnis konnte bei genauer Betrachtung in die andere führen. Das Gebet vor der besonderen Kreation Gottes oder eine Meditation konnten durchaus aus der wissenschaftlichen Beschäftigung resultieren. Eine ähnliche Brücke zur Wissenschaft versucht die Kunst heute wieder zu bauen.
Einige Kunstgärtner_innen nutzen parallel zu Cassini auch Moos – von Lois Weinberger, der den Aspekt der Ruderale (Unkräuter), wild wachsend an den Rändern unserer Städte, wie den Aspekt des sanft Überwucherns auch politisch mit der Migrationsproblematik verbindet, über die postkolonialen Untersuchungen Christian Philipp Müllers bis zu den historischen Recherchen Christian Mayers und Fotografen wie Robert Zahornickys Serie „Terraförmig“. Gelatin haben nach Vorbild der Gemälde von Hieronymus Bosch das Moos auch in Sachen „Garten der Lüste“ eingesetzt. Daniel Spoerri ließ Natursofas in seinen Giardini-Entwürfen mit Gras oder Moos überwachsen, die einladend aber nicht nutzbar waren. Etwas früher verwendeten auch Jean Dubuffet (1958 „Gartenboden“), Joseph Beuys, Robert Smithson und Richard Nonas das Moos in ihren Konzepten. Der Kunsthistoriker Götz Pochat baute mit Lawrence Weiner einen japanischen Garten samt Steinen und Moosinseln für die Zeitausstellung in Krems 1999. Und Cassini verwandelte 2016 – als Nachtrag zu ihrem „Lichtspeisen“ Projekt - Moospölster zu einer essbaren Süßspeise, die an Grabhügel aus der Zeit der Lydier erinnern und vom bekannten Archäologen Jürgen Borchhardt als
„bin tepe tumuli“ identifiziert wurden.

Bei allen Unterschieden ist anzumerken, dass die Pflanze in allen Konzepten in ihrer unscheinbaren Erscheinung nur die Inhalte verstärkte, aber kaum selbst Inhalt wurde.
Mayer ging es in seinem Experiment für das Video „Dropping Well“ 2013 um die Versteinerung eines Plüschpferdekopfs, der einer ständig tropfenden Quelle ausgesetzt ist, mittels Moos und Mineralien. Der Prozess und die Metamorphose dienen auch Andrea Büttner in ihren Moosarbeiten (3 D-Fotografien und reale Nutzung austrocknender Moospölster) für eine gedankliche Verbindung zu Armut, aber auch zu hybriden technologischen Oberflächen. Dabei kam ihr in der Wiener Kunsthallenschau „Beggars and iPhones“ 2016 der Schimmel in die Quere, der das Potential besprühter Moospflanzenstücke in eine weitere symbolische Ebene transformierte. Das scheinbar Leblose erwachte zu einer für den Kunstraum toxischen Reaktion.
Die Nachbarschaft mit Leinwänden oder Objekten aus Kunstmuseen bringt ohnehin eine große Problematik mit sich. Das lebende Material ist nämlich ein restauratorisches No-Go in Kombination mit allen Exponaten. Das heißt, es muss auf die Transformation von Moosen ins sterile Foto, Video oder auf den Abguss in andere leblose Materialien zurückgegriffen werden, denn der historische Kunstkammercharakter der Renaissance kann heute nur in Privaträumen für Betrachter_innen erzeugt werden. Kunstwerke lebendiger Art bleiben daher auch für die Transformierung in den Kunstmarkt problematisch.

Moos ist Geld. Vanitassymbol und Verpackungsmaterial
Wenn der Stein und das Wasser Gegensätze bilden (hart/weich und flüssig/fest), ist das Moos das Ding dazwischen, wie es eben früher getrocknet als Verpackungs-material diente. Moos kann die Decke für den Todesschlaf an den Quellen-heiligtümern sein und wie bei Lois Weinbergers tragbaren Gärten - in Wannen, Säcken und Kübeln - eine Art Zersetzungs-prozess oder Veränderung vermitteln. Moose über Kadavern pflanzen Jake und Dinos Chapman scheinbar (als Abguss jene imitierend) über ihre Kunstobjekte. Der Topos für Abgeschlossenheit, der „Hortus conclusus“ des Mittelalters, kennt das Moos durch seine Vorliebe für schattige Plätze zwischen Mauern; daher ist es auch in Gemälden der Marien- und Magdalenalegende häufig anzutreffen.
Extrem ist die Labor- oder Treibhaussituation für spezielle Objekte der Kitsch-produktion, die in Schneekugeln gezwängt werden; eine Wiener Erfindung in Nachfolge der Natur-abgüsse einer fixierten Natur. Da fällt Kunstschnee auf künstliche Moosböden. Viele Paradiese im Kleinen erwiesen sich als künstliche Zweitnaturen, auch auf diesen Faktor der unumkehrbaren ökologischen Zerstörungen will uns Cassini mit ihren Mikrokulturen aufmerksam machen. Das Moos steht als Bewahrer vor den wachsenden Wüsten hoch im Kurs, gibt es doch Arten, die sich auch bei minimaler nächtlicher Luftfeuchtigkeit anpassen können. Die Künstlerin macht unsere Pseudonaturen sichtbar und zeigt auf, wie wir in paradoxer Weise Kunst als Naturersatz nutzen; geistiger Rohstoff versucht sich in eine Ästhetik der Nachhaltigkeit einzuschummeln.

In der Werkgruppe „Moos auf Industrie 4.0“ nutzt Cassini das Verpackungsmaterial exklusiver Computerhersteller und dazu die Kunststofffarbbänder für notierte Lagerhaltung eines großen Lebensmittelkonzerns. Sie umwickelt die viereckigen rahmenartigen, mit Betonfarbe besprühten Verpackungsmaterialien, bemoost sie vereinzelt oder setzt in ihre offene Mitte Makrofotografien von Moosen ein. Auch alte Fotoalben hat sie im Keller der Bemoosung ausgesetzt, hier kommt der Faktor der Tilgung von Familiengeschichte ironisch zum Tragen.
Da Geld umgangssprachlich „Moos“ heißt, kommt ein weiterer Vergänglichkeits-aspekt hinzu. In barocken Stillleben ist die Goldmünze neben der Feder, der Seifenblase oder der gelöschten Kerze stärkstes Vergänglichkeitsmotiv – und das galt für Katholiken und für Protestanten gleichermaßen.
In der heutigen 4. industriellen Revolution, gerne zahlenmäßig mit 4.0 notiert, ist die Fabrikation der Geräte ohne Verpackung undenkbar. Moos war ja schließlich selbst Dämmstoff in den ersten Phasen der industriellen Revolution. Aber auch die Begriffe
aus der Wirtschafts- und Finanzwelt spiegeln die ständige Bewegung und damit den Unsicherheitsfaktor wider. Moos, sich am Boden verbreitend, langsam aber vielerorts wachsend, in der Umwelt luft- und feuchtigkeitsabhängig, bleibt ambivalent.

Conclusio
Aus dem ehemaligen „Stil rustique“ der Grotten, Schüttelkästen und nach Naturabgüssen in Keramik hergestellten Schüsseln des Bernard Palissy im Manierismus, die man benützte, um mit plötzlich sichtbar werdenden Schlangen und Ungeziefer unter dem Essen zu schocken, ist ein verkleinertes aber brodelndes Denklabor geworden - mit politischen, wissenschaftlichen, poetischen und mythischen Aspekten, die auch den Kontext für die heute komplexen Kunstansprüche nach „Arte povera“ und „Land-Art“ bilden.