different eyes
Von außen nach innen
Ein wahrnehmungs- und gestaltpsychologischer Kommentar von Gerhard Stemberger

Der Zufall will es, dass diese Ausstellung mit einem bedeutenden »Geburtstag«
zusammenfällt. Es ist heuer 120 Jahre her, dass eine der bedeutendsten Pionierarbeiten
zur menschlichen Wahrnehmung erschien: Im Jahr 1890 veröffentlichte der österreichische Philosoph und Psychologe Christian Freiherr von Ehrenfels
(1858–1932) sein bahnbrechendes Werk »Über Gestaltqualitäten«. Wer die hier ausgestellten Aufnahmen nicht nur betrachten und auf sich wirken lassen möchte,
sondern auch verstehen will, welche Eigenheiten menschlicher Wahrnehmung dabei
ins Spiel kommen, kann dafür aus den Entdeckungen von Ehrenfels und jenen,
die ihnen folgten, viel gewinnen.

Unterschiedlichkeit und Identität
Beim Betrachten der hier präsentierten Fotografien richtet sich die Aufmerksamkeit
als erstes wohl auf deren Unterschiedlichkeit: So unterschiedlich lässt sich
das Modell also fotografieren … So unterschiedliche Aspekte der fotografierten
Person können dabei zum Vorschein kommen …

Die Unterschiedlichkeit nimmt die Aufmerksamkeit so rasch und so dominant gefangen,
dass etwas anderes, eigentlich viel Erstaunlicheres in der Regel unbemerkt
bleibt. Dieses bemerkenswert Unbemerkte liegt nicht in der Differenz, sondern in
der Identität: Dass nämlich in der Regel gar kein Zweifel daran aufkommt, dass es
sich innerhalb der einzelnen Bilder-Serien um ein und dieselbe Person handelt,
die da fotografiert wurde. Denn es wird wohl nur wenige Menschen – wenn überhaupt
– geben, die beim Anblick der Aufnahmen denken, dass es sich hier in den
einzelnen Serien jeweils um verschiedene, wenn auch vielleicht überraschend
ähnliche Menschen handelt.

Die Wahrnehmung von Unterschieden setzt Identität oder zumindest Ähnlichkeit
voraus, dies bleibt für uns in der Regel allerdings unbemerkt.
Aber wie kommt es zustande, dass wir auf den verschiedenen Aufnahmen ein und
dieselbe Person sehen, trotz aller Detailunterschiede und obwohl doch kein Pixel
der einzelnen Fotos wirklich übereinstimmt? Dies geht darauf zurück, dass unsere
Wahrnehmung nicht aus Einzelheiten ein Ganzes aufbaut, in unserem Fall also
aus Abertausenden einzelnen Pixeln das Bild eines Gesichts. Ganz im Gegenteil: In
unserer Wahrnehmung sind uns von vornherein Ganzheiten gegeben, wir nehmen
spontan und unmittelbar in gegliederten Ganzheiten, in Gestalten wahr, das Wahrnehmen
von Einzelheiten kommt – wenn überhaupt – erst später und nach einiger
Zeit der Betrachtung.

Das gilt auch für die Erinnerung – man merkt sich Gesichter leichter als Nasen –,
aber auch für das Vergleichen, etwa beim Vergleichen der uns hier präsentierten
Portraitaufnahmen. Unsere Wahrnehmung vergleicht bei der Betrachtung
der einzelnen Fotos nicht Pixel für Pixel, sondern vergleicht ganze Gesichter mit
ganzen Gesichtern. Und für das Wahrnehmen von Übereinstimmung oder Identität
dieser Gesichter sind nicht die einzelnen Pixel oder sonstige Einzelheiten
maßgeblich, sondern die Übereinstimmung oder Ähnlichkeit zwischen diesen
Ganzheiten.

Die Identifizierung kann selbst dann eintreten, wenn diese Ganzheiten sich in
einem Großteil oder sogar der Gesamtheit ihrer Einzelheiten unterscheiden.
Christian von Ehrenfels hat das unter anderem am Beispiel der Melodie demonstriert:
Melodien werden auch nach ihrer Transposition in eine andere Tonart
wiedererkannt, obwohl sie in keiner einzigen Note mehr übereinstimmen.

Und Christian von Ehrenfels folgert daraus: »Es kann also keinem Zweifel unterliegen,
dass die Ähnlichkeit von … Gestalten auf etwas Anderem beruht, als auf der
Ähnlichkeit der Elemente. Es müssen daher jene Gestalten auch etwas Anderes sein, als
die Summe der Elemente.« (Ehrenfels 1890, S. 19)
Mona Lisas Lächeln
Diese Ideen von Ehrenfels wurden später von der Gestalttheorie (der so genannten
Berliner Schule der Gestaltpsychologie, ab 1910) weiter ausgebaut und präzisiert. Dabei
geht die Gestalttheorie so weit, sinngemäß folgende Behauptung aufzustellen:
Es gibt Zusammenhänge, wo nicht die Einzelheiten bestimmen, was wir im Ganzen sehen,
sondern umgekehrt das Ganze bestimmt, welche Einzelheiten wir überhaupt wahrnehmen
und wie das geschieht. Diese Behauptung, seither vielfach wissenschaftlich-experimentell
untermauert, hat zwangsläufig auch weitreichende Auswirkungen für die
Fotografie.
Wie diese Behauptung gemeint ist, soll hier kurz am Beispiel des berühmten
Lächelns der Mona Lisa von Leonardo da Vinci erläutert werden. Bekanntlich
sieht man dieses Lächeln nur dann, wenn man Mona Lisa in die Augen schaut.
Schaut man hingegen auf ihren Mund, ist es verschwunden. Die amerikanische
Neurowissenschaftlerin Margaret Livingston führt dies auf die Teilung des Blickfelds
in einen peripheren und einen zentralen Bereich zurück: Das Lächeln
erscheint ausgeprägt nur dann, wenn es im peripheren Blickfeld des Betrachters
liegt (Livingston 2002).

Demnach wäre das Lächeln also ein Ergebnis der Zentrierung unsers Blicks beim
Betrachten des Bildes. Dass sich das wahrgenommene Bild im Ganzen wie in seinen
Einzelheiten je nach Zentrierung des Blicks ändern kann, zeigt nun aber zugleich,
dass es sich bei dem abgebildeten Gesicht nicht um einen zusammenhanglosen
Haufen von Bildpunkten handelt, sondern um ein gegliedertes, dynamisch zusammenhängendes Ganzes, um eine Gestalt. Ob wir das Lächeln (also einen Teil des Bildes) wahrnehmen oder nicht, hängt nicht von den einzelnen Teilen (den Augen, dem Mund und dergleichen) als solchen ab, sondern die inneren Strukturgesetze des Ganzen bestimmen, welche Teile wir wahrnehmen und wie.

Solange diese jeweils bestimmenden inneren Strukturgesetze des Ganzen erhalten
bleiben, erkennen wir diese Ganzheiten auch wieder, selbst wenn sie – so wie in Ehrensteins Beispiel der Melodie – transponiert bzw. in vielen Details verändert
werden, wir sie also aus ganz anderer Perspektive, unter ganz anderen ichtverhältnissen,
nur in Ausschnitten oder in anderer Weise abgewandelt sehen. In den Worten des Gestaltpsychologen Wolfgang Metzger: »Für den Eindruck der Ähnlichkeit verwickelterer Gebilde kommt es … vor allem darauf an, ob und wieweit die Rollen der Teile erhalten sind bzw. wie weit Teile oder Teilmomente von ganz bestimmter Funktion im Ganzen erhalten sind …« (Metzger 2001, S. 90).

So ein »verwickeltes Gebilde« ist das menschliche Gesicht nun jedenfalls. Und die
in dieser Ausstellung gezeigten Aufnahmen belegen eindringlich, dass die menschliche
Wahrnehmung zum Wiedererkennen eines Gesichts keineswegs die strikte Vereinheitlichung der Perspektive, des Ausschnitts oder anderer Details bis hin
zum Gesichtsausdruck braucht, wie sie derzeit etwa gerade für Passfotos vorgeschrieben
wird, um ein Erkennen auch durch den Computer zu ermöglichen.

Gestaltgesetze der Wahrnehmung und der Gestaltung
Abgesehen von der Herstellung von Passfotos und dergleichen für die maschinelle
Gesichtserkennung, wäre es ambitionierten Fotografinnen und Fotografen allerdings
wohl zu wenig, wenn ihre Portraitaufnahmen nur daran gemessen würden,
ob die fotografierten Personen darauf zu erkennen sind. Ihnen, wie auch den
Fotografierten, käme es wohl eher darauf an, dass eine »gute« Portraitaufnahme
Detail aus Leonardo da Vinci, Mona Lisa, 1503 – 05, Öl/Holz, Paris, Louvre
zustande kommt, wobei die Ansprüche daran vor und hinter der Kamera natürlich
durchaus unterschiedlich sein können.

Auf einer technisch-handwerklichen Ebene können sich zu diesem Zweck auch
FotografInnen auf die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten menschlicher Wahrnehmung
stützen, wie sie insbesondere die Gestaltpsychologie erforscht und in den
sogenannten »Gestaltgesetzen« der Wahrnehmung dargelegt hat – von der Figur-
Grund-Gliederung bis hin zu den Gruppierungsgesetzen der Nähe, der Ähnlichkeit,
der Geschlossenheit und vielen anderen mehr. Als »Klassiker« auf diesem Gebiet
ist hier vor allem Wolfgang Metzgers bisher unübertroffene Darstellung in seinem
Buch »Gesetze des Sehens« zu nennen, das 2009 in der vierten Auflage erschienen
ist. In der systematischen Anwendung dieser gestaltpsychologischen Erkenntnisse
speziell auf die Fotografie und für die Vermittlung gestalterischer Kompetenz
auf diesem Gebiet hat sich vor allem der amerikanische Fotograf Richard D. Zakia
einen Namen gemacht (siehe Literaturangaben zu diesem Beitrag).

Aber gute Fotografie erschöpft sich nicht in der geschickten handwerklichen
Anwendung solcher Kenntnisse, so wichtig diese auch sind und so katastrophale
Ergebnisse ihre Missachtung hervorbringt. Jeder Mensch, der sich einmal bewusst
fotografieren hat lassen, weiß: Vor allem die Portraitfotografie ist psychologisch
gesehen in besonderer Weise eine soziale, eine sozial-psychologische Situation – im
Unterschied zu einer rein technischen Situation (auch wenn spezifische technische
Besonderheiten und Möglichkeiten diese Situation mitbestimmen können,
worauf ich noch zurückkommen werde) oder einer, bei der sich die Fotografin
etwa mit einem unbelebten Objekt auseinandersetzt.

Besonderheiten der Arbeit mit dem Lebendigen
Damit ist nicht nur das grundlegende funktionale Verhältnis zwischen der otografierenden
und der fotografierten Person gemeint, also zum Beispiel, ob es sich um eine Auftragsarbeit handelt oder um ein eigenes künstlerisches Projekt der Foto-
grafin oder des Fotografen. Gemeint sind vielmehr weit darüber hinausgehend
die allgemeinen Besonderheiten der schöpferischen »Arbeit mit dem Lebendigen«,
wie das der Gestaltpsychologe Wolfgang Metzger in Abgrenzung zur Arbeit mit
unbelebten Objekten genannt hat.

Sechs besondere Kennzeichen dieser Arbeit am Lebendigen nennt Metzger in seiner
»Schöpferischen Freiheit« (1962): Die Nicht-Beliebigkeit der Form, die Gestaltung
aus inneren Kräften, die Nicht-Beliebigkeit der Arbeitsgeschwindigkeit, die Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeit, die Duldung von Umwegen und die Wechselseitigkeit des
Geschehens. Alle diese Kennzeichen oder besonderen Anforderungen haben ihre
Bedeutung auch in der Fotografie, wo es um den Umgang mit lebendiger Natur geht,
in unserem Fall in der Portraitfotografie um den Umgang mit dem Menschen.
Mit dem Kennzeichen der Nicht-Beliebigkeit der Form ist gemeint, dass man
Lebendigem »auf die Dauer nichts gegen die eigene Natur aufzwingen« kann; man
»kann nur zur Entfaltung bringen, was schon in dem ›Material‹ selbst als Möglichkeit
angelegt ist« (Metzger 1962, S. 20).

Mit dem Kennzeichen der Gestaltung aus inneren Kräften ist gemeint: »Von
Dauer sind im Bereich des Lebendigen nur solche Formen, die durch die Entfaltung
innerer Kräfte sich bilden und ständig von ihnen getragen und wiederhergestellt
werden« (S. 26). Mit dem Kennzeichen der Nicht-Beliebigkeit der Arbeitsgeschwindigkeit ist gemeint: »Das lebende Wesen … hat vor allem auch seine eigenen fruchtbaren
Zeiten und Augenblicke, in denen es bestimmten Arten der Beeinflussung, der
Lenkung oder deren Festlegung zugänglich ist. … Wer mit lebenden Wesen umgeht,
muss also in viel höherem Maß als der Macher geduldig warten können,
andererseits aber, wenn der rechte Augenblick heranrückt, ohne Zögern bei der
Hand sein« (S. 27).

Mit dem Kennzeichen der Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeit ist gemeint, dass
Prozesse des Wachsens und Reifens ihre jeweils eigenen Ablaufgeschwindigkeiten
haben, die sich nicht beliebig beschleunigen lassen.

Mit dem Kennzeichen der Duldung von Umwegen ist gemeint: »Wer mit der
Pflege, dem Aufziehen und der Erziehung von lebenden Wesen zu tun hat, muss
überall dort Umwege in Kauf nehmen, wo diese bei der Entwicklung dieses Wesens
in seiner Natur angelegt sind« (S. 30).

Mit dem Kennzeichen Wechselseitigkeit des Geschehens schließlich ist gemeint,
dass beim Umgang mit Menschen – sei er nun pflegend, lehrend, erziehend,
fördernd, spielend oder wie in unserem Fall kreativ – nie einseitig der eine
auf den anderen einwirkt, sondern das, was geschieht, immer wechselseitig ist.
Für unseren Fall heißt das, dass also auch nicht nur die Fotografin auf das Modell
einwirkt oder umgekehrt, sondern eine ständige Wechselwirkung stattfindet, die
sich auch im Ergebnis, der zustande kommenden Fotografie mehr oder weniger
eindringlich niederschlägt.

Bildgestaltung ist in der Fotografie, insbesondere in der Portraitfotografie also
immer auch Beziehungsgestaltung zwischen den Menschen vor und hinter der
Kamera. Und sie setzt sich später – also auch jetzt hier in der Ausstellung – fort
in der Beziehungsgestaltung zwischen den Betrachtern der Fotografien auf der
einen Seite der Fotografie und jenen Menschen auf der anderen Seite, vor und
hinter der Kamera.

Signatura rerum
Dabei nun kommen auch bestimmte Besonderheiten der Fotografie ins Spiel.

Eine Grundeigenschaft des photographischen Mediums – verglichen etwa mit der
Malerei oder Skulptur – ist, dass sich die physischen Objekte mit ihrer äußeren
Hülle oder Oberfläche »selbst abbilden« – mittels der optisch-physikalischen und
chemischen Funktionsweise des Lichtes. Diese technische Besonderheit bedingt
auch eine andere Bewegungsrichtung im schöpferischen Umgang mit diesem
Medium. »Malerei und Bildhauerei gehen von innen nach außen; die Photographie
geht von außen nach innen«, wie das der Kunst- und Gestaltpsychologe Rudolf
Arnheim ausdrückt (1991b, S. 157).

Die Fotografie kann sich vom Faktum, dass sich die physische Realität auf dem
Film oder dem elektronischen Medium selbsttätig abbildet und dass sie dies mit
ihrer äußeren Hülle, ihrer Oberfläche tut, nicht einfach lösen wie etwa Picasso, der
bisweilen Innen und Außen gleichzeitig ins Bild nimmt. FotografInnen hingegen
müssen darauf achten, dass das »Außen« möglichst viel vom »Innen« preisgibt.
Dabei kommt ihnen, wie Arnheim hervorhebt, ein wichtiger Umstand zu Hilfe,
den der Rennaissance-Mystiker Jakob Böhme die signatura rerum nannte, die Zeichenhaftigkeit der Dinge, mittels derer die äußere Erscheinung das innere Wesen
zum Ausdruck bringt (1991b, S. 160).

In der Regel werden denn auch solche Portraitaufnahmen besonders wertgeschätzt,
die prägnant in dem Sinne sind, als sie nicht nur das Äußere der fotografierten
Person gut »ins Licht setzen«, sondern auch das Wesen, den Charakter
der Person durchscheinen lassen, oder doch zumindest eine wesentliche Facette
davon. Darin besteht die Kunst, zugleich aber auch die Verantwortung von FotografInnen:
In der Portraitfotografie erhält – um noch einmal Arnheim zu Wort kommen zu lassen – das Ich des Fotografen von seinem Gegenüber bis zu einem gewissen Grad die Vollmacht, »das Du wie ein Es zu fixieren« (Arnheim 1991a, S. 141). In der Frühphase der Fotografie wurde diese Vollmacht wohl noch uneingeschränkter und naiver erteilt als heute, wo beide Seiten aufgeklärter über die Möglichkeiten und Wechselwirkungen in dieser speziellen Situation sind.

Auf dem Portraitfoto ist ja nicht einfach das Modell zu sehen, sondern – im Unterschied
zu einem unbemerkten Schnappschuss oder Foto aus einer Überwachungskamera
– wie das Modell auf die Gegenwart und Person des Fotografen (und
umgekehrt) und auf die besondere Situation des Fotografiert-Werdens reagiert.

Nur der Augenblick ist privat …

Dazu kommt, dass der technische fotografische Vorgang, nicht zuletzt auch durch
die gegenüber den Anfängen der Portraitfotografie wesentlich kürzeren Verfotokatalog_
schlusszeiten, beabsichtigt oder unbeabsichtigt zwangsläufig »versteckte Augenblicke
« aus einem Fluss ständiger kleinerer oder größerer Veränderungen des
lebendigen »Objekts« einfängt.

Damit kommen die bereits erwähnten psychologischen Eigenheiten menschlicher
Wahrnehmung ins Spiel: Die erste davon ist, dass unser Bewusstsein auf das Erfassen
von Ganzheiten eingestellt ist und Zeit braucht, um Einzelheiten wahrzunehmen.
Der Fotoapparat hingegen isoliert einzelne Momente, Mikro-Ausschnitte
aus einem ständigen Fluss der Verwandlung dieser Ganzheiten, die ansonsten
bewusst gar nicht wahrgenommen würden. Dies hat zweitens zur Folge, dass diese
aus dem Zusammenhang gerissen und fixiert ihr Wesen verändern und neue
Eigenschaften annehmen können.

»Nur der Augenblick ist privat,« so hebt Arnheim den Unterschied zwischen dem
Maler mit seiner Staffelei am Stadtplatz zum Fotografen hervor, »der Maler scherte
sich nicht um das Kommen und Gehen der Menschen, sondern fixierte etwas, das
gar nicht da war, weil es immer da war.« (Arnheim 1991a, S. 141) Erst die Fotografie
erfasst zwangsläufig das Augenblickhafte und damit das Private. Das kann lästig,
aber eher belanglos sein, wenn etwa eben im Moment des Auslösens der Lidschlag
die Augen verschließt. Das kann enthüllend sein, wenn in dem eingefangenen
»versteckten Augenblick« ein Gefühlsausdruck sichtbar wird, der nur in diesem
einen Moment aufblitzt und sonst verborgen bleibt. Das kann entstellend sein,
wenn etwa durch eine bestimmte Augenblickskonstellation von Licht und Schatten
das Gesicht für diesen einen festgehaltenen Moment künstlich einen Charakter
annimmt, der der Person nicht wirklich gerecht wird.

Ein ganz besonderer Glanz …
In jedem Fall stellt dies die Fotografin, den Fotografen unvermeidlich vor ihre
persönliche zwischenmenschliche Verantwortung. Das wird durch eine weitere
Besonderheit ihres Mediums noch betont, nämlich durch die technische Notwendigkeit
der persönlichen Gegenwart am Ort des Geschehens zusammen mit
ihrem menschlichen Gegenüber – man kann aus der Erinnerung oder nach
Phantasie zwar malen, aber nicht aus der Erinnerung oder nach der Phantasie
fotografieren.

Dazu gebe ich abschließend nochmal Rudolf Arnheim das Wort. Eine gelungene
Fotografie geht aus der aktiven Zusammenarbeit von Modell und Künstler, Bezeichnetem
und Bezeichnendem, hervor, meint er. Und er setzt fort: »Der Gegenstand
des Fotografen ist so eigensinnig, dass er lieber den Geist aufgibt, als nach dessen
Pfeife zu tanzen, was dem Fotografen Ursache großen Elends ist. Aber wenn es
einmal gelingt, das Wesen und die Bedürfnisse beider Seiten zu vereinigen, dann
«(1991b, S. 165)

Literatur:
Arnheim, Rudolf (1991a): Über
das Wesen der Photographie. In:
R. Arnheim, Neue Beiträge. Köln:
DuMont, S. 140 –155.
Arnheim, Rudolf (1991b): Glanz
und Elend des Photographen. In:
R. Arnheim, Neue Beiträge. Köln:
DuMont, S. 156 –165.
Ehrenfels, Christian von (1890):
Über Gestaltqualitäten.Vierteljahrsschrift
für wissenschaftliche
Philosophie, S. 249 –292. Hier
zitiert nach dem Nachdruck in
Ferdinand Weinhandl (Hrsg.),
Gestalthaftes Sehen – Ergebnisse
und Aufgaben der Morphologie,
Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 1978, S.11– 43.
(siehe auch: http://scriptorium.
hfg-karlsruhe.de/ehrenfels.html
Livingstone, Margaret (2002):
Vision and Art. The Biology of Seeing.
New York: Abrams Press
Metzger, Wolfgang (1962):
Schöpferische Freiheit. Frankfurt:
Waldemar Kramer.
Metzger, Wolfgang (2001):
Psychologie. Die Entwicklung ihrer
Grundannahmen seit der Einführung
des Experiments. 6. Auflage.
Wien: Krammer.
Metzger, Wolfgang (2009): Gesetze
des Sehens. Die Lehre vom Sehen
der Formen und Dinge des Raumes
und der Bewegung. 4. unv. Auflage.
Magdeburg: Klotz.
Zakia, Richard D. (1997): Perception
and Imaging. Boston: Focal Press.
Zakia, Richard D. (2004): Gestalt
and Photography. Gestalt Theory 26
(2), 114 –121.