FOLDER September 2004

wir sind noch nicht so weit von Martin Adel

Theres Cassini benennt in diesen Arbeiten etwas, was es in der gesamten Arbeit nicht gibt oder nur indirekt gibt: Wir sind noch nicht so weit. Wir werden nie so weit sein. Egal wie weit wir kommen.

Ihre Fotobearbeitungen und Fotomontagen können etwas Albtraumhaftes haben oder etwas Tröstliches. Je nach dem, ob man sich vor manchen Bildern schreckt oder nicht.

Ein Großteil von ihnen war ursprünglich in Einheiten von drei thematischen Einstellungen konzipiert: Totale (wide-eye-shot), eine Art Zentrum des Geschehens (Normale) und Makro (close up).
Aus diesen Triptycha sind in der endgültigen Version häufig Diptycha geworden. Diese wiederum wurden von der Künstlerin zum Teil getrennt, um in einer neuen vermischten Anordnung ihren Platz zu finden.
So ergeben sich für den genauen Betrachter Querbezüge, die zugleich die Einzelbilder aus der engen Bindung sprengen und sie zu einem gemeinsamen und beziehungsreichen thematischen Kontext zusammenführen.

Wir sehen ein Gewirr aus Leibern, das hinaufdrängt, schiebt und zieht (ähnlich wie auf alten Bildern von der Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag). Wir sehen Tauben, die sich wie riesige Greifvögel über einen liegenden, abwehrend verdrehten weiblichen Körper erheben. Wir sehen einen ausgezehrten Körper, der mühsam versucht, sich auf den Ellenbogen aufzurichten; mit weit zurückhängendem Kopf, den riesigen Mund zu einem tonlosen Schrei aufgerissen. Wir sehen eine völlig zusammengekauerte, sozusagen in sich Schutz suchende Figur mit einer langen Narbe in der Flanke. Wir sehen blasse, ein wenig schwarz gesprenkelte Raupen oder Maden, die sich durch Fleischliches ringeln....

In den wide-eye-shots liegt die Betonung mehr auf den Strukturen; in den zumeist verschwommen unscharfen close-ups könnte man so etwas wie amorphe Biomasse zu erkennen glauben: Körperteig, Pflanzentrieb. Diese jeweiligen Flügel zum ursprünglichen Mittelstück ergeben erst den thematischen Dreischritt: Sein Vergehen Werden. Dafür spricht insbesondere die eine Tafel, die die prinzipielle Doppeldeutigkeit für den gesamten Zyklus thematisiert: Wir wissen nicht, ob dieser Körper von dem erdig fleischlichen Muttermund verschlungen oder eben geboren wird. Dazu der röntgenologische Schattenriss seiner Wirbelsäule auf einer anderen Tafel, die Stammbaum und Evolutionsleiter sein könnte. Und dann noch die durchgängig (direkt oder indirekt) sichtbaren und spürbaren Grundelemente: Erde Wasser Luft.

Hier vermischen sich verfremdete Realität und Märchenhaftes, Kitsch und Albtraumartiges, Ekel und Schönheit auf irritierende Weise. Die geharzte Oberfläche der raffinierten, Computer -bearbeiteten Fotomontagen (die auch nur so entstehen konnten) gibt uns in ihrer hochglänzenden gläsernen Härte die nötige Distanz.

Ein Seitenthema zu diesem Werkzyklus stellt Theres Cassini in einer separaten Raum-Installation vor: Mit einer seriellen Anordnung von ausrangierten Turnsaal-Böcken, die von lebensgroßen Umriss-Körpern an der Wand begleitet sind. Die Bewegungen dieser frei wirbelnden oder frei stürzenden Körper wurden ebenfalls digital verfremdet oder, wie die Künstlerin es ausdrückt, entfremdet. Die Uniformität des von Angst- und Lustschweiß gedunkelten Leders, die sexuellen Bezüge und Anspielungen dieses bock- beinigen Geräts zusammen mit den in der Bewegung und hinter Harz eingefrorenen nudes, schlagen den Spannungsbogen in eine andere Richtung als der Hauptzyklus. Sie ergeben aber auch ein dichotomisches Spannungsfeld, hier aufgespannt zwischen Angst und Lust.


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